Tränen der Sehnsucht

Ein nasskalter Herbsttag lässt mich frösteln. Fassungslos schüttele ich meinen Kopf.

Meine kleine 9-jährige Nichte Luisa steht zitternd neben mir und während sie sich an mich kuschelt und meine Hand festhält, schaut sie mich traurig an.

 

Fest umschlungen halte ich sie fest und wünsche mir, dass das alles nur ein böser Traum wäre und ich doch jetzt lieber aufwachen würde. Zweifelnd schliesse ich die Augen und öffne sie schnell wieder, als ich mich ertappe, wie ich innerlich seufze: `Ich will endlich erwachen! `

Dann schaue ich in die traurigen Augen meiner Nichte. In ihrem Blick liegen tausend Fragen. Fragen, die bei mir eine Gänsehaut verursachen. Liebevoll blinzele ich ihr zu und denke: `Ich würde alles tun, um dir dein Leid abnehmen zu können`.

Als könnte sie meine Gedanken hören, schaut sie betrübt auf den Boden und Tränen kullern leise über ihre blassen Wangen. Deutlich kann ich ihre stummen Schreie hören und würde am Liebsten mit ihr schreien. Aber ich zwinge mich stark zu sein. Stark sein für sie und alle anderen in meiner Familie.

 

„Tantchen, was machen wir denn jetzt?“, unterbricht Luisa meine Gedanken.

Hilflos starre ich vor mich hin und während ich nach einer Antwort suche, scharre ich mit meinem Fuss in der Erde. Innerlich erschüttert, schaue ich ins Leere und presse hervor: „Ich weiss es nicht. Das wichtigste ist, dass wir jetzt ganz fest zusammenhalten, mein Herz.“

Luisa schaut mich an, zugleich neigt sie ihren Kopf etwas zur Seite und bestätigt: „ Ja, das machen wir.“

Doch plötzlich verfinstert sich ihr Blick und sie scheint noch blasser zu werden, als sie mit zittriger Stimme fragt: „Warum ist das geschehen? Warum meine Mami? Es tut so weh!“ Plötzlich beginnt sie qualvoll zu weinen. Selbst der Ohnmacht nahe, stehe ich, wie angewurzelt, rat- und sprachlos neben ihr.

Fast unhörbar wimmert Luisa: „Ich vermisse sie doch so sehr“. Dabei schluchzt sie herzzerreissend. Zugleich presst sie ihr Köpfchen an mein Bein.

Endlich wieder Herr meiner Sinne, knie ich mich blitzschnell zu ihr runter, nehme sie ganz fest in meine Arme und entgegne: „Ich weiss. Ich bin immer für dich da, Kleines!“

So verharren wir einen Moment. Doch während ich verzweifelt versuche, meine Tränen zu unterdrücken, legt Luisa ihre kleine zittrige Hand auf meinen Kopf und antwortet sehr erwachsen: „ Du kannst auch weinen, Tantchen. Ich bin auch für dich da.“ Als hätte die Kleine einen Knopf bei mir gedrückt, beginne auch ich herzzerreissend zu weinen. Ich schluchze laut und ungeniert und schaue sehnsuchtsvoll in den dunklen Himmel, während ich innerlich schreie: `Komm zurück! `

Bald finde ich meine Fassung wieder und stelle fest, dass sich Luisa nicht bewegt hat. Zärtlich löse ich mich aus unserer Umarmung und halte sie dann an ihren Schultern fest. Zutiefst erschrocken, da sie mich noch nie so weinen gesehen hat, schaut sie mich sorgenvoll an, während sie mich fragt: „Geht’s dir gut?“

 

`Nein mir geht’s nicht gut. Ich vermisse meine Schwester so sehr, dass es schmerzt. Meine Kehle schnürt sich zu, wenn ich nur daran denke, dass sie nicht mehr da ist. Ich fühle mich leer und kraftlos. Ich will sie zurück haben! Was mache ich nur? `, möchte ich gern antworten, aber stattdessen entgegne ich und versuche dabei zu lächeln: „Ja, mein Schatz, mir geht’s gut. Bald wird alles wieder gut.“ Und während ich sie herzlich umarme, flüstere ich noch: „Ich habe dich ganz fest lieb.“ Anschliessend drücke ich ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn.

Gerade will ich aufstehen, als mich Luisa blitzartig bremst und mir, mit grossen Kullertränen auf ihren Wangen, antwortet: „Ich hab dich auch lieb.“

 

Liebevoll schaue ich Luisa an und dabei erkenne ich in ihren Augen, meine Schwester. In diesem Moment weine ich erneut bitterlich und ausgefüllt von Liebe.

Schwermütig stehe ich langsam auf und ergreife Luisas kalte, kleine Hand. Weinend und voller Sehnsucht, stehen wir gemeinsam am Grab meiner Schwester und mit zittrigen Knien murmle ich: „Ich vermisse dich so sehr!